Joachim Seuling: Unsere Stadt für alle fit machen

Nur wenige Menschen eilen versteckt unter ihren Schirmen über den Zentralplatz in der Koblenzer Innenstadt. Es regnet. Und der Platz zwischen dem modernen Shoppingcenter Forum Mittelrhein und dem Kunst- und Kulturforum Confluentes verschwimmt mehr und mehr im Wettergrau an diesem Dienstagnachmittag. Ich schaue über den im Jahr 2013 neu gestalteten Hauptplatz und erinnere mich wieder an dessen Zustand vor der Sanierung und Umgestaltung. Der zentrale Platz in Koblenz hat heute eine 6.000 Quadratmeter große Freifläche mit einer Grüninsel und einem Wasserspiel. Er wird für verschiedene Veranstaltungen, wie Wochen- oder Weihnachtsmarkt, genutzt und bietet neben Sitzgelegenheiten auch Restaurants mit Außenbestuhlung.
Mehr Grün hätte ich mir gewünscht, stelle ich wieder fest, und auch mehr Farbigkeit.
Ich nehme mir vor, meinen heutigen Gesprächspartner auch nach seinem Empfinden zu befragen, denn schließlich befindet sich sein Lieblingsplatz genau hier.

Zentralplatz, Forum Confluentes, März 2019

Joachim Seuling schmunzelt, als ich ihm meine Frage nach dem Zentralplatz stelle.
„Ein netter Platz, der aber für Menschen mit Beeinträchtigungen sehr schlecht begehbar ist. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie sich ein Mensch mit einer Sehbehinderung hier orientieren kann,“ fragt mich mein Gegenüber ohne Umschweife?
Nein, das habe ich tatsächlich nicht. Und noch ehe ich antworten kann, erklärt mir Joachim Seuling, dass bei der Erarbeitung des Gestaltungskonzeptes ein Orientierungs- oder Leitsystem zu wenig berücksichtigt worden ist. Selbst mit einem erdachten ‚System‘, wie immer an der Wand lang, kann schon mal damit enden, dass man sich den Kopf an der Hauskante des Forum Confluentes stößt.
„Oder“, fährt er rasch fort, „wie kommt ein Mensch mit Sehbehinderung vom Koblenzer Hauptbahnhof zu den Bushaltestellen?“
Wieder schaut er mich erwartungsvoll an.
Darüber habe ich mir bisher tatsächlich keine Gedanken gemacht.
„Er muss eine breite befahrene Fläche überqueren, ohne Orientierungshilfen. Das ist gefährlich,“, erklärt mir Joachim Seuling.

Die Stadt hatte sich inzwischen stark verwandelt.

Und schon sind wir Zwei mitten im Gespräch…
Doch bevor wir in die Stadt eintauchen, möchte ich von Joachim Seuling wissen, seit wann und warum er in Koblenz lebt.
„Das wollen Sie wirklich“, scherzt er?
„Ich lebe seit 1991hier. Ich war Berufssoldat mit vielen Verwendungen und wurde in diese Stadt versetzt. Mein Arbeitgeber hat sozusagen Koblenz für mich ausgesucht.“
Seine erste Begegnung mit der Stadt an Rhein und Mosel liegt allerding länger zurück. 1984 war er bereits in dieser Stadt.
Nach seinem Eindruck gefragt, zögert er: „Was für ein ‚verlorenes Kaff‘ habe ich damals gedacht.“
Und trotzdem sind Sie nach Koblenz gezogen, hake ich nach?
„Ja, ich war ja bei der Bundeswehr und da wurde man halt versetzt. Aber die Stadt hatte sich inzwischen sehr verwandelt. Die Koblenzer Altstadt hatte deutlich an Lebensqualität gewonnen. Es  gab viel mehr Einkaufsmöglichkeiten als 1984. Dazu existierten für eine Familie mit drei Kindern positive Angebote wie Kitas und Schulen. Trotzdem blieben noch immer einige ‚Schmuddelecken‘,zum Beispiel das Rheinufer am Schloss.“
Kaum vorstellbar, denke ich, wenn man heute die Rheinpromenade und das Kurfürstliche Schloss mit dem ansprechend gestalteten Schlossgarten sieht.
„Das Schloss“, fährt Joachim Seuling fort, „war eine meiner Wirkungsstätten in Koblenz.“
Und dann erzählt er mir, unter welchen Herausforderungen er den Jahresempfang der Bundeswehr in dem seinerzeit maroden Gebäude mit ‘Rosengarten‘ organisiert hat.

Joachim Seuling, März 2019

„Auch heute sehe ich das Kurfürstliche Schloss immer noch mit gemischten Gefühlen. Es ist recht hübsch,“ meint mein Gegenüber verhalten, „aber noch fehlen hier wichtige Voraussetzungen, damit Menschen mit Behinderungen barrierefrei in den Schlossgarten gelangen können. Es gibt zwar einen Lifter, aber dieser ist oft defekt und meist dauern Reparaturen länger als nur einen Tag. Unschön,“ betont er jetzt etwas lauter und setzt hinzu: „warum hat man nicht im Süden statt einem Parkplatz einen rollstuhlgerechten Rundweg mit Garten um das Schlossgebäude angelegt?“

Joachim Seuling erwartet keine Antwort. Stattdessen beschreibt er mir, was man in dieser Stadt verbessern könnte: öffentliche, behindertengerechte Toilettenanlagen zum Beispiel am Schloss, barrierefreien Nahverkehr, Gehwege, die breit genug sind für Menschen mit Gepäck, Kinderwagen, Rollatoren oder Rollstühlen, breite Radwege.
„Hier in der Stadt dominieren die Autofahrer. Wenn in einer Straße gebaut wird, wer, meinen Sie, muss dann weichen?“
Sein fragender Blick fixiert mich und ehe ich antworten kann, sagt Joachim Seuling: „Natürlich die Radfahrer und Fußgänger. Da werden einfach Schilder aufgestellt, wie „Fußgänger bitte andere Straßenseite benutzen“ oder „Radfahrer absteigen“. Und was machen diejenigen, die die Schilder gar nicht lesen oder mit ihrem Rollstuhl gar nicht auf die andere Straßenseite gelangen können?“
Ich spüre das Engagement und Herzblut meines heutigen Gesprächspartners nicht nur, weil er Behindertenbeauftragter in Koblenz ist.
Und meine Frage, was ihm an Koblenz weniger gefalle, muss ich auch nicht mehr stellen.

Koblenz hat eine schnuckelige Größe.

Dafür stelle ich Joachim Seuling die Frage, was er sich für Koblenz wünsche.
„Oh“, lacht er,“ ich habe viel zu viele Wünsche. Vielleicht benenne ich Ihnen meinen Kernwunsch. Ich wünsche mir eine andere Mentalität oder Einstellung in dieser Stadt. Wichtig muss doch sein, dass wir die Stadt für alle fit machen, denn nur so bekommt Koblenz die Chance, sich weiterzuentwickeln. Wir sollten nicht nur Pläne machen, sondern auch umsetzen. Koblenz ist nun mal eine ‚Beamtenstadt‘. Die Menschen hier sind superkorrekt und lieben es, nach Gesetzen und Verordnungen zu handeln. Auch wenn diese manchmal weniger sinnvoll erscheinen. Uns fehlt es nicht an großen Visionen, sondern am Mut, diese zu gestalten. Aber wir haben auch schon vieles erreicht. Denken Sie an die BUGA 2011. Ein richtiger Schub für die Stadt. Es gab zudem positive Mitnahmeeffekte, zum Beispiel im Service. Und viele engagierte Menschen…“
Joachim Seuling macht eine kleine Pause.
„Auch ein Ergebnis der BUGA, das Peter-Altmeier-Ufer und das Konrad-Adenauer-Ufer sind gut berollbar. Das wird gerade von Menschen mit eingeschränkter Mobilität besonders geschätzt.“
Und dann fallen ihm doch noch Wünsche an die Stadt ein, zum Beispiel, dass die Stadtteile außerhalb der Innenstadt nicht vergessen werden.
„Lützel oder Neuendorf gehören schließlich auch dazu. Koblenz ist nicht nur Alt- und Innenstadt.“
Wir nicken gleichzeitig.

Was gefällt Ihnen in Koblenz besonders und was würden Sie einem Gast zeigen, knüpfe ich an?
„Koblenz hat eine schnuckelige Größe, viele Grünflächen und bietet eine Menge unterschiedlicher kultureller Veranstaltungen. Ich gehe sehr gerne in einen Biergarten, lieber als in eine der Altstadtkneipen. Die sind mir wegen meiner Hörbeeinträchtigung inzwischen zu laut. Das gilt leider auch für die tollen Musikevents auf der Festung Ehrenbreitstein. Aber an einem lauschigen Abend mit Spargel, gekochtem Schinken und mit einem Glas Riesling von der Mosel im Sonnenuntergang auf dem Plateau der Festung Ehrenbreitstein zu sitzen, das ist Genuss.“

Stadtbibliothek Koblenz, März 2019

Seinen Gästen bietet Joachim Seuling lieber ein individuelles Programm, abhängig von deren Interessen. Für ihn hat die Stadt so viele interessante Gebäude und Plätze, die einen Besuch lohnen: die Liebfrauenkirche mit Hochaltar und Triptychon, das „Lengenfeldsche Haus“, ein turmartiges, fünfgeschossiges Wohn- und Geschäftshaus der Spätgotik in der Koblenzer Altstadt, heute: Gasthaus „Deutscher Kaiser“, oder interessante Details wie die aufwendig gestaltete Holztüre des ehemaligen Hafenamtes. Aber auch eine Fahrt mit der Rheinfähre hinüber zum Koblenzer Stadtteil Ehrenbreitstein, ein Spaziergang am Remstecken, einem Naherholungsgebiet mit Wildpark und Waldökostation, oder der Besuch im Forsthaus Kühkopf sind für Joachim Seuling lohnenswerte Ziele.
„Wir hatten auch schon Gäste, die fanden den Wasserspielplatz attraktiv oder haben aus einem Stadtspaziergang eine mehrstündige Fototour gemacht. In unserer Stadt ist vieles möglich. Es gibt ihn eben nicht, den ‚einen Platz in Koblenz‘“, unterstreicht Joachim Seuling.
„Haben Sie schon mal eine Führung über den Koblenzer Hauptfriedhof gemacht, vielleicht sogar eine Baumführung? Oder waren Sie schon mal auf dem Franzosenfriedhof mit dem Marceau-Monument in Koblenz-Lützel? Empfehlen kann ich auch einen Rundgang durch Koblenz-Lützel. Der Stadtteil hat viel Potential, auch wenn wir ihn hier gerne als sogenannten ‚sozialen Brennpunkt’ sehen.“
Ich höre dem engagierten Koblenzer mit Begeisterung zu. Mir wird einmal mehr bewusst, dass sich Joachim Seuling auch als Gästeführer für seine Stadt einsetzt.

In der Stadtbibliothek, März 2019

„Ich habe eine Idee,“ sagt er plötzlich und lacht fröhlich, „ein Innungsmuseum in Koblenz-Lützel. Die Innungen der Stadt könnten dort ihre Schätze zeigen, von mittelalterlichen Zünften hin zum modernen Handwerk.“
Anstecken kann er, der Koblenzer, mit seinen Ideen und seinem Temperament.

„Und wenn Sie mit dem Rad unterwegs sein wollen, dann fahren Sie mal an der Lahn entlang nach Bad Ems. Wunderbar ist das, mit Zwischenstopp auf ‚Maximilians Brauwiesen‘. Das ist allerdings schon Lahnstein…“, zwinkert er mir zu.

Auf meine Frage, ob er sich in Koblenz zuhause fühle, findet er schnell eine Antwort.
„Ich war wahrscheinlich zu viel unterwegs und, ich bin viel zu kritisch, um mich einem Heimatgefühl hinzugeben. Aber ich fühle mich wohl in dieser Stadt, Es gibt keine Abwanderungstendenzen und immerhin bin ich inzwischen mit einem echten Schängel, Karthäuser Mädchen, in zweiter Generation, verheiratet.“

Wir sind zusammen eingetaucht an diesem Nachmittag in diese liebenswerte Stadt an Rhein und Mosel, mit ihren vielen Facetten, mit ihren Ecken und Kanten. Und dabei hätte ich beinah vergessen, Joachim Seuling nach seinem Lieblingsplatz zu befragen: Die Stadtbibliothek, die im Forum Confluentes 200.000 Medien bietet, von Sachbüchern über Unterhaltungsliteratur bis hin zu Kinder- und Jugendbüchern, dazu Hörbücher, Musik-CDs, Filme, auch Lernprogramme sowie Zeitungen und Zeitschriften.

Joachim Seuling an seinem Lieblingsplatz in der Stadtbibliothek in Koblenz, März 2019

„Ein Ort, der mich begeistert“, so Joachim Seuling freudig.
„Ich lese sehr gerne, das Literatur-, aber auch das Hörbuchangebot und die umfangreiche Filmbibliothek sind prima. Zudem sind die angebotenen Veranstaltungen spannend und informativ. Am liebsten verweile ich in der Sitzecke im fünften Stock. Dort gibt es auch einen guten Kaffee, falls der Automat nicht defekt ist. Das Gebäude, in dem die Stadtbibliothek untergebracht ist, ist recht hübsch. Ich persönlich hätte architektonisch zurückhaltender gebaut und lieber mehr Platz für die Bibliothek geschaffen. Und ich hätte auch auf die Dachterrasse verzichtet. Der Umzug der Bibliothek aus dem vorherigen Gebäude in der Altstadt mitten ins Zentrum ist ein Quantensprung gewesen. Durch die Barrierefreiheit hat die Nutzbarkeit der Stadtbibliothek sehr gewonnen. Die heutige Stadtbibliothek ist ein Juwel. Ein echter Juwel, den Koblenz bekommen hat.“
Joachim Seulings Augen leuchten wieder, wie so oft an diesem Nachmittag.

Bevor wir gemeinsam in die Stadtbibliothek gehen, bitte ich mein Gegenüber, seine Stadt mit fünf Begriffen oder Sätzen zu beschreiben. Und spontan fallen ihm ein: Grün, nicht so barrierefrei wie möglich, vielseitig, manchmal etwas langweilig.
„Den fünften Begriff liefere ich ihnen nach“, scherzt er.
„Manchmal viel zu laut“, ergänzt er nur wenig später.

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Joachim Seuling, Jg. 1957, Gästeführer, ehemaliger Soldat, Behindertenbeauftragter
Lieblingsplatz: Stadtbibliothek
Herzlichen Dank an die Stadtbibliothek Koblenz, mit deren Genehmigung ich die Fotos anfertigen und veröffentlichen darf.

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