Mein heutiges Koblenz-Gespräch beginnt mit einem kleinen Spaziergang, vorbei an spätsommerlichen Feldern, einer Schafherde, Nussbäumen und einer Pferdekoppel. Hin und wieder begegnen mir Menschen, meist mit Hund, die wie ich den Wirtschaftsweg zwischen den Koblenzer Höhenstadtteilen Arzheim und Asterstein für einen Nachmittagsspaziergang nutzen. Während ich den Duft frischgemähter Wiesen atme, denke ich wieder an die erste Email meiner heutigen Gesprächspartnerin. Ich schmunzle: 84 Jahre sei sie und wahrscheinlich zu alt für das Projekt, aber immerhin in Koblenz geboren und geblieben…
Von wegen, habe ich beim Lesen sofort gedacht und mich mit Inge Schaefer zu einem Gespräch verabredet.
Jetzt stehe ich an ihrer Eingangstür und läute. Sofort antwortet mir ein aufgeregtes Bellen. Kurz darauf bittet mich eine sympathische Koblenzerin herein, allerdings nicht ohne zunächst zu fragen: „Sie haben hoffentlich keine Angst vor Hunden?“ Meinem Kopfschütteln schließt sich sogleich eine herzliche Einladung auf eine Tasse Kaffee an. Nein, Angst vor Hunden habe ich nicht.
Inge Schaefer ist im Koblenzer Stadtteil Metternich geboren. Sie sei eine `echte Koblenzerin`, erzählt sie mir augenzwinkernd: „Bis auf die Zeit unserer Kriegs-Evakuierung bin ich immer in Koblenz geblieben. Ich habe erlebt, wie die Stadt zerstört und wie sie wieder aufgebaut wurde, wie sich die Stadt immer wieder verändert hat, gewachsen ist.“
Inge Schaefer macht eine kleine Pause.
„Die Luftangriffe auf Koblenz, die vielen Bomben haben mich sehr geängstigt und verstört. Ich war damals neun Jahre alt, habe viel geweint. Viele Frauen und Kinder aus Koblenz, darunter auch meine Mutter, meine beiden Geschwister und ich, wurden im September 1944 nach Thüringen evakuiert. Wir flohen vor den Bomben. Eine schreckliche Zeit, an die ich ungern erinnert werden mag.“
Wiederum hält mein Gegenüber kurz inne, schluckt. Noch bevor ich das Thema wechseln kann, spricht Inge Schaefer weiter: „Im Mai 1945 sind wir zusammen mit einer weiteren Frau und deren drei Kindern zu Fuß aus der Nähe von Bad Langensalza nach Hause zurück gekehrt.“ Und dann schweigt sie.
1945 war Koblenz zu 87 Prozent zerstört. Die Luftangriffe von April 1944 bis Januar 1945, darunter der verheerende Luftangriff vom 6. November 1944, forderten über 1.000 Tote und 3.000 Verwundete. Von 91.000 Einwohnern im Mai 1939 lebten in der Innenstadt beim Einmarsch der Amerikaner 1945 nur noch ca. 4.000 Menschen.¹
„Die Infrastruktur war komplett zerstört, überall nur Schutt und Trümmer. Mein Vater noch in Gefangenschaft, kehrte später krank zu uns zurück. Keine gute Zeit, aber ich war froh, dass keine Bomben mehr fielen“, erzählt Inge Schaefer leise.
„Zuhause in Koblenz, besuchte ich als inzwischen Zehnjährige wieder die Schule, zunächst in Metternich, später in der Innenstadt. Nach Abschluss der Mittelschule begann ich als Stenotypistin bei der DEBEKA. 1955 habe ich geheiratet, in den folgenden Jahren zwei Kinder bekommen. Ich habe 43 Jahre im Koblenzer Stadtteil Goldgrube gelebt, bevor ich in diesen Stadtteil gezogen bin. Früher war das für mich unvorstellbar. Wenn man auf der anderen Seite des Rheins wohnt, wollte man nicht auf der sogenannten `schäl Säit´ leben. Aber, ich bin glücklich hier. Wer hätte das gedacht!“
Der seit 1982 bestehende Stadtteil Asterstein auf der rechten Rheinseite ist der jüngste Koblenzer Stadtteil. Die Preußen hatten seinerzeit hier das Fort Asterstein, 1847 benannt nach dem preußischen Infanterie-General Ernst-Ludwig von Aster, errichtet, eine militärische Festung mit Kasernen und Verwaltungsbauten. Im Zuge der Remilitarisierung des Rheinlandes wurde die Goeben-Kaserne für das Infanterie-Regiment Nr. 80 erbaut, benannt nach General August Karl von Goeben. Als sogenannte Goeben-Siedlung wurde diese nach dem Zweiten Weltkrieg zu Wohnzwecken umgebaut. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts bürgerte sich der Name Asterstein für die umliegenden Wohngebiete ein.²
Und in diesem Stadtteil hat Inge Schaefer sogar ihren Lieblingsplatz gefunden.
„Ich habe mich immer gefragt, wenn ich über die Pfaffendorfer Brücke gefahren bin, was das für ein Gebäude hoch oben, mitten im Hang sei. Eines Tages habe ich den Weg dorthin gesucht und war sofort begeistert, sowohl von der Lokalität wie auch von dem phantastischen Ausblick. Heute steht da eine Bank“, lacht Inge Schaefer, „aber mehr verrate ich Ihnen jetzt nicht! Wir gehen ja gleich zusammen dorthin.“
Ich halte einen kurzen Moment inne, erfreue mich am herzhaften Lachen der agilen Koblenzerin und frage dann:
Was gefällt Ihnen in Koblenz besonders gut?
„Der Platz `Am Plan´ in der Altstadt, die Liebfrauenkirche, drumherum die kleinen Gassen, der Münzplatz, aber noch viel besser finde ich, dass sich die Kultur in unser Stadt so gut entwickelt hat, wenn ich allein an die vielen interessanten Angebote auf der Festung denke. Zum Beispiel auch die Konzerte in den Kirchen, wie das Orgelkonzert zur Mittagszeit in der Herz-Jesu-Kirche oder andere gute Angebote.“, betont Inge Schaefer.
„Auch wenn ich vieles aufgrund meines Alters nicht mehr nutzen kann“, sagt sie mit etwas Wehmut in der Stimme.
„Die Busverbindungen vom Asterstein in die Stadt sind gut, dennoch kommen Abendangebote für mich nicht mehr in Frage. Aber glauben Sie jetzt nur nicht, dass ich mich beklage. Das kulturelle Angebot in der Stadt ist vielfältig und abwechslungsreich“, bekräftigt sie mir.
Aber Sie haben doch sicher Wünsche, will ich jetzt wissen?
„Ja“, sagt sie nach kurzem Überlegen und gar nicht zögerlich, „ja, ich habe einen Wunsch, eine Rundfahrt durch die Stadt für ältere Menschen, die ihr Koblenz lieben und nicht mehr in der Lage sind, alleine dort hinzukommen.“
Auf mein fragendes Gesicht hin erklärt mir Inge Schaefer ihre Idee: einen Bus für Seniorinnen und Senioren, der sie durch die Stadt zu den Sehenswürdigkeiten fährt, kostenlos oder für ein kleines Entgelt.
„Ich weiß“, sagt sie, „ es gibt den Schängel-Express, aber ich meine einen Bus nur für uns Ältere. Auch wenn man die Stadt kennt, es geht um das Zusammensein, um den Austausch, um einen gemeinsamen, geselligen Nachmittag. Und der Bus hat komfortable Tritte, mit denen es sich gut ein- und aussteigen lässt. Ja, das schreiben sie ruhig so“, sagt Inge Schaefer ernst, „schließlich haben Sie nach meinen Wünschen gefragt.“
Und was mögen Sie eher weniger in Koblenz, möchte ich nun wissen?
Auch da muss Inge Schaefer nicht lange überlegen: “Das Forum Mittelrhein! Hat Koblenz das wirklich gebraucht?“
Das Forum Mittelrhein ist ein vom ECE Projektmanagement erbautes und 2012 eröffnetes Einkaufszentrum mit 80 Fachgeschäften, Cafés und Restaurants in der Innenstadt.
„Hingegen der gegenüberliegende Kulturbau“, so die Koblenzerin,“das Forum Conflutentes mit der Stadtbibliothek und dem Mittelrhein-Museum, ist eine Bereicherung für die Stadt. Allerdings“, schränkt Inge Schaefer ein, „könnte man aus dem Café in diesem Gebäude mehr machen.“
Plötzlich springt sie auf und läuft in das nebenliegende Zimmer. Zeit zum Wundern bleibt mir allerdings nicht, denn genauso rasch steht sie wieder vor mir, mit zwei Büchern in der Hand. Sie schmunzelt und beginnt ohne Umschweife zu lesen: „ Dat Forum en de Innenstadt es iwwerall bekannt. Net nur bei ons en Kowelenz och offem platte Land. Wat vorher off dämm Platz gewees dat wor och garnet scheen. Die Planer hann fier onser Stadt wat Extras vorgesehen. Vill Struwwel goofet oft em Rat…“. Ich höre zu, staune und versuche, den Inhalt des Gedichts zu verstehen, denn nicht jedes, der mit fester Stimme vorgetragenen Worte ist mir bekannt.
„Das ist mein Gedicht über das `Kowelenzer Forum´“, erklärt mir Inge Schaefer.
„Ich schreibe leidenschaftlich gerne Gedichte in Koblenzer Mundart. Viele davon hat die hiesige Lokalzeitung in den vergangenen Jahren bereits veröffentlicht. Mein Sohn hat aus meinen Gedichten das Buch `Dat Kroko-Täschje´ gestaltet und veröffentlicht.“
Sie zeigt stolz auf das Buch und ich freue mich mit ihr.
„Wollen Sie noch ein Gedicht hören…?“
Und dann liest sie für mich ihr Gedicht über „E Metternijer Mädsche“, dann ihr Lieblingsgedicht „Confluentia es gebore“ und „Schnudedunkers Schobbe“, mein Lieblingsgedicht und mein Lieblingswort an diesem Nachmittag.
„Ich habe immer Zettel und Stift parat liegen“, lacht die Mundartdichterin.
„Oft fallen mir auch Texte ein, wenn ich mit meinem kleinen Hund spazieren gehe. Allerdings dichte ich nicht nur in Koblenzer Mundart, sondern auch hochdeutsch. „Hier“, sie zeigt auf das zweite Buch, „das hat auch mein Sohn gestaltet und veröffentlicht. `Die Zukunft lächelt´, haben wir es genannt. Ich schreibe über alles, was mich bewegt. Manchmal fließt es einfach nur so aus der Feder.“
Inge Schaefers Leidenschaft hat früh begonnen. Ihr erstes Gedicht „Führerschein“ hat sie vor 50 Jahren geschrieben. Sie hat immer und überall gedichtet, für die Familie, für Freunde und sogar die Protokolle des Vorstandes eines Kirchenchors, deren Schriftführerin sie war.
„Zugegeben nur an Karneval“, merkt sie verschmitzt an.
„Es liegt wohl in den Genen, meine Tante war eine bekannte Koblenzer Mundartdichterin. Allerdings bin ich der Meinung, dass man Sprache, dass man Dialekt überhaupt pflegen sollte. Denn das hat etwas mit Heimat und Verwurzelung zu tun. Es wäre doch schön, wenn in den Grundschulen Mundart vermittelt werden würde und damit auch ein Stück Heimat.“
Dialekt hat auch was mit Heimat zu tun…
Heimat ist für Inge Schaefer eher ein Gefühl als ein Ort und bedeutet, sich auskennen, wohlfühlen, angekommen sein. Koblenz ist ihr Zuhause, ist ihre Stadt. Sicher wäre sie auch gerne einmal länger von Koblenz fort gegangen.
„Aber dann wäre ich bestimmt vor Heimweh umgekommen“, sagt sie ernst.
„Wenn wir, mein zweiter Mann und ich, vereist sind – und ich bin sehr gerne gereist“, versichert sie mir nachdrücklich, „dann habe ich mich doch immer wieder richtig gefreut, wenn wir in Koblenz zurück waren. Es ist sehr schön, ein Zuhause zu haben…und einen Lieblingsplatz“, ergänzt sie kurz darauf.
Dieser Platz, den wir jetzt gemeinsam entdecken, befindet sich auf einem grünen Hügel mit einem herrlichen Ausblick auf die zu Füßen liegende Stadt und die angrenzenden Mittelgebirge Hunsrück, Eifel und Westerwald. Auf der Wiese steht die bereits erwähnte Bank, rechts führt ein schmaler Fußweg vorbei am Denkmal für die Gefallenen des Feldzuges von 1866 hin zum Kolonnenweg und von dort entweder hinunter in den Koblenzer Stadtteil Ehrenbreitstein oder zurück auf den Asterstein. Geht man von Inges Lieblingsplatz aus nach links, stößt man auf die seit Juli 2014 wieder hergerichtete Teufelstreppe, der kürzesten Verbindung zwischen den Stadtteilen Asterstein und Pfaffendorf hinab in die Innenstadt. Auf diesem Weg findet man Reste des 1822 erbauten Werks Glockenberg, welches Bestandteil der preußischen Festung Koblenz war und zum System Pfaffendorfer Höhe gehörte. In den 1920er Jahren wurde das Werk der Schleifung zugeführt.³
Mein Gast würde immer gerne wiederkommen…
Ihren Lieblingsplatz würde Inge Schaefer auch ihrem Gast zeigen, selbst wenn er nur kurz in Koblenz weilen würde.
„Solch einen Platz vergisst er nicht“, ist sie sich sicher, „denn das ist mal keiner der touristischen Orte, die man in Koblenz als erstes besucht.
Allerdings würde sie ihrem Gast auch diese zeigen: die Rheinanlagen, das Deutsche Eck, dahinter den Blumenhof und die Kastor-Kirche und weiter am Moselufer bis zum Mosellum, der Erlebniswelt Fischpass. Unterwegs würden sie Eis essen oder im Biergarten verweilen. Ihr Gast soll sich gerne an ihre Stadt erinnern und immer wiederkommen, wäre Inge Schaefers Wunsch.
Dann greift sie noch einmal zum Buch und liest: “Hei an Mussel on am Rhein leit dat Kowelenz su scheen…“. Ich verstehe, nicht nur die Zeilen ihres Gedichts.
Bevor ich mich von Inge Schaefer nach einem langen inspirierenden Nachmittag verabschiede, beschreibt mir die Koblenzerin mit ganz viel Herz noch einmal ihre Stadt.
„Koblenz ist für mich wunderschön, heimelisch, liebevoll, lebendig, eine Stadt an zwei Flüssen, mit gutem Wein.“
Wir verabschieden uns und Inge Schaefer umarmt mich sehr herzlich. Sie reicht mir ihre zwei Bücher: „Zur Erinnerung an diesen schönen Nachmittag, bis bald.“
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Inge Schaefer, Jg. 1934, Mundart-Dichterin
Lieblingsplatz: Plateau im Stadtteil Koblenz-Asterstein
¹ https://www.regionalgeschichte.net/?id=7687
² https://de.wikipedia.org/wiki/Koblenz-Asterstein
³ https://www.rund-um-koblenz.de/teufelstreppe.html | https://www.welterbe-mittelrheintal.de/a-teufelstreppe
Und das hat Inge Schaefer zu ihrem Lieblingsplatz im August 2019 geschrieben:
En Bank off de Hieh
Do stieht en Bank huh offem Bersch
zom ruhe on sinniere.
Et es ganz stell wie enner Kersch,
nur Vielscher jubiliere.
Ronner guck ich off de Stadt,
die mäin Heimat es,
die massisch vill ze biede hat,
wenn de näigierisch bes.
Dat Schloß läit mir genau em Bleck,
huhheitlisch, gläisch am Rhäin.
Links de Paffendorfer Breck,
die moß Verbindung säin.
Dä Hauptbahnhof on Kärjeterm
on vur mir de Kadaus,
dä Eulehorst grüßt aus de Fern,
de Eifel läit gradaus.
Ons Mussel, holde Lieblichkeit,
kimmt ommet Eck geflosse.
Dä Rhäin es offnahmebereit,
su wierd dä Bund geschlosse.
Häi kann ich setze on genieße
suwäit dat Auge reicht.
Dobäi loß ich Gedanke sprieße,
umd Herz wierd et mir läicht.
Von links do hier ich Läidscher schwätze
von de Deiwelstrepp.
Die wolle off de Bank sich setze,
meede Wannerer met Gepäck.
Su mache ich dann och en Satz,
mäin Roh es nau vurbäi.
Et es lang mäine Lieblingsplatz,
ich säin jo efters häi.
Eine sehr schöne Geschichte.